Ratzeburg (pm). Im Jahr 2012 feierte Ratzeburg den 950. Jahrestag seiner ersten urkundlichen Erwähnung. Zu diesem Anlass planten drei Männer vor über einem Jahr die Sammlung und Veröffentlichung von Geschichten: Klaus-Jürgen Mohr, Vorsitzender des Senioren-Beirats, Christian Lopau, Archivar der Stadt, und Hans-Joachim Höhne, langjähriger Schulmeister. Im vergangenen Sommer suchte die kleine Redaktionsgruppe über die Presse nach passenden Beiträgen. Die Geschichten sollen die heutige und kommende Generationen an Menschen erinnern, die man mit dem Namen „Ratzeburg“ verbindet und deren Gedächtnis es wert ist, bewahrt zu werden. Mit freundlicher Genehmigung der Initiatoren werden diese jetzt auch auf Herzogtum direkt zu lesen sein. Im achten Teil lesen Sie etwas über Karl Pechascheck.
Karl wurde 1894 in Ratzeburg geboren (gest. 1978) und wuchs in der Fischerstraße auf; sein Elternhaus stand auf dem Grundstück, das später von der Meierei-Genossenschaft gekauft wurde; jetzt (2012) entsteht dort eine großzügige Wohnanlage. Es ist sicherlich klar, dass das Wohnhaus der Pechaschecks um einiges kleiner war! Seine Mutter betrieb dort eine kleine Wäscherei, die vor allem von den Soldaten aus der Stadtkaserne (an der Stelle, wo jetzt die Kreisverwaltung steht), „unseren Jägern“ genutzt wurde, und eine Verkaufsstelle der Bäckerei Dieckvoß (Domstraße).
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts fand sich „Kasperscheck“ (so wurde er auch liebevoll in Ratzeburg genannt) bereit, auf Tonbändern aus seinen Erinnerungen zu erzählen. Sieben Bänder kamen zusammen, die von Klaus-Peter Hanke in mühevoller Arbeit in Ordnung gebracht (Karl war kein Tontechniker!) und später auf CDs übertragen wurden; sie werden im Archiv der Stadt aufbewahrt. Während der Aufnahmen hatte Karl Gäste aus seinem Bekannten- und Freundeskreis, die wohl auch hin und wieder einen kleinen inhaltlichen Beitrag leisten durften – aber nur hin und wieder, denn unser Karl redete gern und viel! Dazu zählten Dr. Kurt Langenheim (Kreis- Archivar), Friedrich Gerken (SPD-Stadtvertreter), Hugo Woller sen. (Kaufmann), Curt Petroll (Stadtwerke), Pastor Ernst Gleimann (St. Georgsberg), Herr v. Lessel (Dermin), Walter Dohrn (Direktor der Kreissparkasse) und Herr Marschall (pens. Offizier).
„So, nu hör mal to!“ Einige seiner Erinnerungen mögen zu unserer Freude wiedergegeben werden. Alles konnte Karl natürlich ja nicht zum besten geben, „wat he utfreten harr“. Seine Erinnerungen an seinen langjährigen Freund und Gönner Ernst Steinhusen finden sich unter „Erinnerungen an den Ratskeller“.
Als er ein Kind war, lebte sein Großvater bei der Familie im Haus; er arbeitete in einer Lohgerberei ein paar Häuser oberhalb in der Fischerstraße. Die Lohe bestand aus Eichenrinde, die in einem Mörser mit einem Stößel zerkleinert und mit Wasser zu einer Brühe wurde, in der die von groben Fleischresten mit einem Schaber befreiten Tierhäute eingelegt wurden. Neben der Küche im Hause von Karls Mutter befand sich ein kleiner Raum mit einem vergitterten Fenster zur Straße hin. Das Zimmerchen war voller Dinge, die man nach Karls Worten „heute Antiquitäten nennen würde“, darunter ein Mörser von beachtlicher Größe und ein Stößel, der in der Mitte durchgebrochen war, beides wohl aus der Lohgerberei. Nun: Bei einbrechender Dunkelheit saß die Familie um die blakende Öllampe (Gas kam später.) in der Küche. Karl, der Jüngste, kroch auf Großvaters Schoß (den „Geruch“, den Opa von der Arbeit mitbrachte, vergaß der Junge sein Lebtag nicht!) und ließ sich wieder einmal die Geschichte vom Löwen erzählen: Einmal war auf dem Marktplatz eine Menagerie zu bewundern, wo man gegen Entgelt Tiere anschauen und bestaunen konnte: Affen, ein Krokodil, Schlangen, einen Löwen usw.
Opa machte sich in der Kammer zu schaffen, als plötzlich ein lautes Brüllen erklang! Opa guckte zum Fenster: Ein Löwe schaute herein, seine vorderen Füße hatte er durch die Trallen gesteckt. Opa griff sich den noch heilen Stößel und hieb dem Tier auf die Vorderbeine. Der Löwe jammerte laut und glitt zu Boden. Opa rannte mit seiner Waffe auf die Straße, „und dor heff ik em so gewaltig up den Kopp haut, dat he up de Stä dood wer. Wat harr allens passieren kunnt! Stell di blots mal vör, em wären lütte Kinner över den Weg loopen: Nich uttodenken! Man de Stößel, de is dorbi ja dörchbroken.“
Die kleine Ratzeburger Feuerwehr hatte bis Ende des 19. Jahrhunderts noch ein Tuthorn (tuuut) für einen Alarm, dann wurde es eine Trompete (tatüüü – tataaa). Einer der Alarm-Bläser zu Karls Kinderzeit war Fiete Banse. Der Junge lag schon im Bett, da erscholl die Trompete, dazu Banses Stimme; „Tatüüü – tataaa! Füer in de Domstraat!!!“ Eine alte Nachbarin, wohl ein wenig schwerhörig, guckte aus ihrer Haustür: „Wo is dat Füer?“ Banse: „ Tatüüü – tataaa! Füer in de Domstraat!“ „Wo is dat Füer?“ „In de Domstraat is dat!“ „Wo?“ Da wurd’s dem braven Feuerwehrmann zu bunt: „Du dummes Stück! Du kannst mi an’n Moors kleien! Dat Füer is ümmer noch in de Domstraat!“
Jahrmarkt war um die Jahrhundertwende (1900) das Ereignis für den kleinen Karl, außer Kaisers Geburtstagsfeier. In bewegenden Worten erzählt der alte Mann von der Unruhe, die ihn Tage vor dem Ereignis erfasste, vom ersten Jahrmarktwagen, der, von zwei Pferdchen gezogen, über das Pflaster der Herrenstraße zum Marktplatz rumpelte. Bleibende Erinnerungen verbanden sich mit Vespermanns (heute gebrannte Mandeln!) Karussell. Ein armseliger kleiner Gaul trottete wie in einem Göpel ständig im Kreis herum, damit die glücklichen Kinder auf den prächtigen Holzrössern stolz ihre Runden drehen konnten. Die Jungen mit zehn/elf Jahren verdienten sich Freifahrten, indem sie das Gefährt anschoben und am Ende einer Fahrt abbremsten, weil das Pferdchen ja beides nicht schaffte. Noch als 70-Jähriger träumte Karl davon, ein altes Karussell-Pferd zu kaufen. Er würde die alten Farbreste abschleifen und es neu und wunderbar bemalen – ja, selbst mit Blattgold würde er es schmücken!
Auch an kleine Unglücksfälle erinnerte sich der alte Herr. Einer der liebsten Spielplätze war für die Jungen um 1908 die Baustelle am Kleinbahndamm zwischen Insel und Vorstadt; das war der zweite Bauabschnitt zur Verbindung zwischen Ratzeburgs Bahnhof und Klein Thurow an der Landesgrenze zu Mecklenburg. Die Burschen fertigten sich „Waffen“, das waren Lehmkugeln, die sie auf eine biegsame Gerte steckten und mit Schwung auf Spiel„feinde“ schleuderten. Karl traf – nur traf er einen Herrn, der aus seinem Haus trat im feinen Gehrock, mit großem weißen Stehkragen. Das Lehmkügelchen schlug auf dem Kragen des Herrn ein!
Ein anderes Mal war Karl selbst der Leidtragende. Er ging mit einem Kumpel zum Angeln auf einen Steg am Küchensee. Die Angeln waren einfach: ein Stock, daran eine haltbare Schnur mit einem leidlich großen Haken. Der Freund stand vorn auf dem Steg, Karl hinter ihm. Wie kommt man zu einem guten Biss? Man holt Schwung, indem man Schnur mit Haken hinter sich wirft und dann … Der Haken landete in Karls Mund und bohrte sich durch seine Lippe! So ein Angelhaken hat einen Widerhaken, also konnten die Jungen ihn nicht selbst entfernen. Karl musste zu Dr. Hajen (wohl auch „Schlachter-Karl“ genannt) an der Ecke Seestraße/Langenbrücker Straße; der entfernte das Malheur, wie es sich gehörte.
Auf seinem Weg über den Markt, der ihn von der Fischerstraße in die Domstraße zu Bäcker Dieckvoß führte und für den Verkauf in einem Korb frisches Brot holen ließ, bewunderte der Junge wohl die Jäger, die als Wache vor der Alten Wache postiert waren. Jedenfalls erzählte er als alter Mann, wie die jungen Soldaten von allen Seiten zur Kaserne in der Stadt eilten, wenn abends zum Zapfen-Streich geblasen wurde.
Als junger Mann gehörte Karl Pechascheck selbst zu den „Jägern“. Von seinen Erlebnissen im Weltkrieg erfahren wir kaum etwas. Aber eine Geschichte ist denn doch erwähnenswert, denn sie spielt – in Ratzeburg: 1917 erhielten Karl und ein Kamerad den Marschbefehl von Brüssel nach Reval, dort war ihre Einheit stationiert. Also ging es mit der Eisenbahn über Hamburg ins Baltikum. Der Kamerad erklärte, er würde die Reise in Hamburg für einen Tag unterbrechen, weil er dort zu Hause sei und die Familie besuchen wollte. Was sollte Karl in Hamburg? Er ließ seine Mutter wissen, dass er nach Ratzeburg kommen würde, und so geschah es. Seine Freude war groß, als er Mutter auf dem Bahnhof sah, sein Erstaunen auch, als er das große Paket in ihrem Arm gewahr wurde. Na ja, Mutter glaubte ihren Sohn auf der Durchreise ohne weiteren Aufenthalt, da musste sie ihrem Jung doch ein Fresspaket auf die weitere Reise mitgeben! Nee, Karl hatte ja fast einen Tag Zeit! Denn man rein in den Waggon der Kleinbahn, die zur Abfahrt Richtung Stadt und Thurow bereit stand. Da saßen sie nun und erzählten und warteten auf den Aufbruch. Aber es geschah nichts! Die Bahn fuhr nicht! Mutter hatte dem Lokführer Lüth (Lütt?) erzählt, dass ihr Karl kommen, aber gleich weiter müsste, und weil es kalt war, hatte der ihnen den Klöhnschnack im Waggon gegönnt. Karl: „Lüth, wann geiht dat los?“ „Ach, du bliffst hier? Denn kann’t ja losgahn.“ So war das in den gemütlichen, guten (?) alten Zeiten!
Karl Pechascheck war ja nicht nur ein typisches Ratzeburger Original! In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hielt er Ratzeburger Straßen-Ansichten in Ölbildern fest. Maler hatte er mal gelernt, und von daher hatte er sicher das Wissen um Farbe und ihre Wirkung, auch wenn er sich bestimmt nicht als „Kunstmaler“ bezeichnet hätte. Wir sollten seine Bilder in Zusammenhang mit der Stadtsanierung jener Zeit betrachten, Sanierung mit ihren unbestreitbaren Vorteilen, aber auch mit dem Verlust liebenswerter alter Bausubstanz – und nicht zuletzt mit (unvermeidlichen?) Bausünden! Die Bilder befinden sich dank der Großzügigkeit der Kreissparkasse im Besitze des Stadtarchivs und lassen sich finden unter www.ratzeburg.de – Rathaus – Stadtarchiv – Archivale des Monats 3/11: ,,Ein alter Ratzeburger malt Alt-Ratzeburg“. Drei Ansichten mögen hier als Beispiele gezeigt sein: die Fischerstraße mit Blick nach Süden auf den Rautenberg’schen Speicher, heute Schwimmhalle Aqua Siwa; davor links wuchs Karl auf.
Das zweite vom nördlichen Ende der Domstraße weist sehr eindringlich auf die Veränderung des Stadtbildes nach der Zerstörung durch die Dänen 1693 hin, als Ratzeburg nach Mannheimer Vorbild ein schachbrettartiges Grundmuster erhielt, das an der Grenze zur eigenständigen Domgemeinde endete. Dort stand quasi mitten in der Straße ein Haus, heute erinnern zwei Grenzsteine mit Kreuz an die Geschichte, unterstützt durch einen Wechsel im Straßenbelag. Und schließlich der Blick in die Herrenstraße, damals wie heute westlicher Zugang zur Insel.
Vor allem aber war Karl Pechascheck Puppenspieler: Damit suchte er seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sachkundige Informationen zu dieser Seite seines Lebens finden sich in einem leider vergriffenen, 2002 bei Ludwig in Kiel erschienenen Buch von Astrid Fülbier: „Handpuppen- und Marionettentheater in Schleswig-Holstein 1920 – 1960“. Auf den Seiten 145 – 147 beschäftigt sich die Autorin mit unserem „Kasperscheck“. Sie sollen, von „Google“ übernommen, diesen Beitrag abschließen.
Hett Spaß makt, Korl! Danke!
Bisher erschienen:
Teil 4 „Erinnerungen an den Ratskeller“
Teil 5 „Originale an der Lauenburgischen Gelehrtenschule“
Teil 6 „Karl Adam, Rudertrainer, Ehrenbürger“
Teil 7: Die Theatergruppe des Ratzeburger Seglervereins
Mehr auf www.ratzeburg.de.
Wer weitere Beiträge liefern kann, mag sich telefonisch oder per E-Mail melden entweder bei K.-J. Mohr (Tel. 8 40 98 32) oder bei Chr. Lopau (Tel. 8000 350, E-Mail: lopau@ratzeburg.de) oder bei H.-J. Höhne (Tel. 4169, E-Mail: ehhoehne@yahoo.de). Beiträge zu der Geschichten-Sammlung können schriftlich, aber auch mündlich in einem Gespräch übermittelt werden. Wie im Falle „Dau“ sind natürlich auch Fotos willkommen. Selbstverständlich behalten sich die drei „Redakteure“ vor, über die Verwendung jeder Geschichte zu entscheiden und sie zu bearbeiten. Das gilt auch für die Art der Veröffentlichung, die von der Menge des Materials abhängig sein wird.