Von Hartwig Fischer
Vor genau 150 Jahren wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses das Deutsche Reich gegründet. Mit dieser Reichsgründung ging für viele Deutsche ein langersehnter Traum in Erfüllung. Dieses Reich sollte insgesamt 74 Jahre Bestand haben und zerbrach mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945. Genau 48 Jahre bestand es als Kaiserreich, vierzehn Jahre als Weimarer Republik und zwölf Jahre als nationalsozialistisches „Drittes Reich“ unter Adolf Hitler.
Die nationale Begeisterung in Deutschland über die Reichsgründung des Jahres 1871 wird in den bewegenden Worten des liberalen Historikers Heinrich von Sybel deutlich: „Die Tränen fließen mir über die Backen. Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? … Was 20 Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist in so unendlicher herrlicher Weise erfüllt!“
Im lauenburgischen Friedrichsruh hängt im dortigen Bismarckmuseum ein berühmtes Gemälde des Malers Anton von Werner, der den historischen Augenblick der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser nach Berichten von Augenzeugen detailgetreu festgehalten hat. Diese Reichsgründung „von oben“ war das Werk des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck und daher hat der Maler ihn in den Mittelpunkt des großformatigen Gemäldes gesetzt. Hierbei „schönte“ der Maler sein Bild, denn Bismarck trug keine weiße Kürassier-Uniform, sondern eine schlichte blaue Interims-Uniform. Der neben Bismarck abgebildete preußische Kriegsminister Albrecht von Roon war bei der Kaiserproklamation gar nicht anwesend, denn er lag wegen einer schweren Erkältung zu Bett.
Der 18. Januar 1871 war von Bismarck und dem preußischen König als Tag der Reichsgründung mit Bedacht gewählt worden, denn der 18. Januar gilt als Geburtstag der preußischen Monarchie. Am 18. Januar 1701 setzte Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg in Königsberg sich und seiner Gemahlin Sophie Charlotte die Königskrone zum König Friedrich I. in Preußen auf. Mit diesem Ereignis begann der erstaunliche Aufstieg Preußens von einem unbedeutenden deutschen Kleinstaat zu einer europäischen Großmacht. Im Krieg 1866 besiegte Preußen die zweite deutsche Großmacht Österreich und wurde dadurch zum mächtigsten Staat auf deutschem Boden. Als am 2. September 1870 in der Entscheidungsschlacht bei Sedan das gegnerische Frankreich unter Kaiser Napoleon III. eine entscheidende Niederlage erlitt, leitete Otto von Bismarck die komplizierten Verhandlungen mit den deutschen Fürsten zur Gründung des Deutschen Reiches in die Wege.
Diese Reichsgründung war das Werk Bismarcks und der 18. Januar 1871 kann als der wichtigste Tag in seiner politischen Laufbahn angesehen werden. Mit Recht hätte er erwarten können, dass nach der Kaiserproklamation der neue Kaiser ihm zum Dank für seine Leistung als erstem die Hand drücken würde. Das Gemälde der Kaiserproklamation vermittelt auch diesen Eindruck eines historischen Augenblicks, aber die Stimmungslage der Akteure war in der Realität eine völlig andere. Kaiser Wilhelm war über die Kaiserkrönung todunglücklich und betrachtete diesen Tag für sich als einen Abschiebeversuch auf einen Ehrenposten. Als er von seinem erhöhten Platz im Spiegelsaal herabstieg und die Glückwünsche der Fürsten und Generäle entgegennahm, strafte er Bismarck ohne einen Händedruck mit verletzender Nichtbeachtung.
Wilhelm war über Bismarck zutiefst verärgert, denn am Tag der Kaiserproklamation war er in „moroser Emotion“. Er hätte – so schreibt er an seine Frau Augusta – am liebsten abgedankt und seinem Sohn Friedrich die Amtsgeschäfte übertragen. Er nannte diesen Tag den „unglücklichsten Tag meines Lebens, da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe, und daran sind Sie, Graf Bismarck, schuld!“. Er beurteilte den Kaisertitel als einen „Charaktermajor“. Mit dem abwertenden Begriff „Charaktermajor“ wurde ein Hauptmann bezeichnet, der am Tag seiner Pensionierung zum Major befördert wurde, ohne dieses Amt je ausgeführt zu haben.
Der Grund für Wilhelms nachhaltige Verärgerung lag in seiner Einstellung zum Preußentum. Als König von Preußen war ihm seine machtvolle Stellung vertraut. Als deutscher Kaiser befürchtete er, eine viel schwächere Position innezuhaben. Er war der festen Überzeugung, dass der Kaisertitel den preußischen Königstitel negativ beeinflussen würde. Für Wilhelm gab es nichts Höheres als den Rang eines Königs von Preußen. Dieser „Abschied von Preußen“ fiel ihm wegen des neuen Kaisertitels unendlich schwer. Allenfalls wollte er „Kaiser von Deutschland“ werden, nicht aber – wie Bismarck es wünschte – „Kaiser der Deutschen“ oder „Deutscher Kaiser“. Nach der Kaiserproklamation durch Bismarck fiel es dem Großherzog von Baden zu, ein Hoch auf den neuen Kaiser auszurufen. Da dieser sich den Zorn von Wilhelm und auch von Bismarck nicht zuziehen wollte, rief er pragmatisch das Hoch weder auf den „Deutschen Kaiser“ noch auf den „Kaiser von Deutschland“ aus, sondern auf „Kaiser Wilhelm“.
Bismarck kritisierte diese negative Einstellung Wilhelms in einem Brief an seine Frau mit drastischen Worten: „Diese Kaisergeburt war eine schwere. … Ich hatte als Accoucheur (Hebamme) mehrmals das dringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, dass der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre“.
Auch wenn Kaiser Wilhelm I. bis zum Ende seines Lebens über sein neues Amt nicht besonders glücklich war, so verrauchte sein Zorn über Bismarck nach einiger Zeit. Dem Kaiser wird auch das Bonmot zugeschrieben: „Es ist nicht leicht, unter solchem Kanzler Kaiser zu sein“. Als Dank für Bismarcks Verdienste zur Reichsgründung erhob er ihn in den Fürstenstand und übertrug ihm den Sachsenwald im Herzogtum Lauenburg. Bismarck ist dort 1898 in Friedrichsruh gestorben und wurde in einem Mausoleum beigesetzt.
Die Reichsgründung wurde von der Mehrheit der Deutschen mit einer unbeschreiblichen Begeisterung begrüßt. Die meisten deutschen Fürsten standen der Reichsgründung dahingegen eher ablehnend gegenüber, weil sie eine Einschränkung ihrer Souveränität befürchteten. Bismarck musste sein ganzes diplomatisches Geschick aufbringen, um in intensiven Verhandlungen die Bedenken der widerstrebenden Fürsten zu überwinden. Es war König Ludwig II. von Bayern, der durch seine demonstrative Abwesenheit in Versailles glänzte und der aus seiner tiefen Abneigung gegenüber Preußen keinen Hehl machte. König Wilhelm bestand allerdings darauf, dass Ludwig II. als der zweitmächtigste deutsche Fürst ihn bitten sollte, die Kaiserwürde zu übernehmen – auch wenn dieser Herrscher ein pathologischer Fall war.
Über viele Jahrzehnte haben die Historiker darüber gerätselt, wie es Bismarck gelingen konnte, den bayerischen König zur Abfassung dieses wichtigen „Kaiserbriefs“ zu bewegen. In seinem Memoirenwerk „Gedanken und Erinnerungen“ schreibt Bismarck lediglich, dass sich König Ludwigs Vertrauter Graf Holnstein in dieser Angelegenheit „große Verdienste“ erworben habe. Nach Öffnung der Archive stellte sich heraus, dass Bismarck die erhebliche Finanznot des bayerischen Königs wegen dessen Verschwendungssucht bei seinen Schlossbauten geschickt ausgenutzt und ihn bestochen hatte. König Ludwig erhielt als Gegenleistung für seinen Kaiserbrief jährlich 300.000 Mark aus einer geheimen Kasse, dem „Reptilienfonds“.
Auch heute noch stellt sich der Ablauf der heiklen Mission des Grafen Holnstein wie eine spannende Szene aus einem Kriminalroman dar. König Ludwig lag auf Schloss Hohenschwangau mit heftigen Zahnschmerzen im Bett und wollte keinen Besucher empfangen. Erst als ihm mitgeteilt wurde, dass Graf Holnstein im Auftrag Bismarcks ihn zu sprechen bat, empfing er ihn. Dieser eröffnete König Ludwig die geplante jährliche finanzielle Zuwendung und legte ihm gleichzeitig den handschriftlichen Entwurf Bismarcks zum erwünschten Kaiserbrief vor. Die Finanznot des bayerischen Königs war derartig groß, dass er trotz seiner tiefen Abneigung gegenüber Preußen diesen Entwurf Bismarcks wortwörtlich ohne die geringste Änderung abschrieb. Über diese sensiblen Vorgänge bewahrte Bismarck aus naheliegenden Gründen Stillschweigen.
Die Kaiserproklamation im Schloss Versailles vollzog sich im Stil einer militärisch geprägten Kundgebung. Neben den deutschen Fürsten und den Generälen waren keine Vertreter des Parlaments anwesend. Der Spiegelsaal war zuvor als Lazarett für verwundete Soldaten genutzt und kurz vor der Kaiserproklamation geräumt worden. Mit der Wahl des Spiegelsaals vom Versailler Schloss König Ludwigs XIV. zum Ort der Kaiserproklamation wurde das französische Nationalgefühl zutiefst verletzt. Dieses Ereignis hat erheblich zur „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland beigetragen. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg bestand Frankreich daher darauf, dass die Friedenskonferenz der Siegermächte symbolträchtig am 18. Januar 1919 im Spiegelsaal von Versailles eröffnet wurde. Die deutsche Delegation musste den Versailler Vertrag ebenfalls im Spiegelsaal am 28. Juni 1919 unterzeichnen, dem Jahrestag des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo.
Die Frage ist berechtigt, warum die Kaiserproklamation ausgerechnet im Spielsaal von Schloss Versailles vorgenommen wurde. Ein Blick in die Geschichte erklärt diese Ortswahl. Der preußische König Wilhelm hatte die ehrverletzende Behandlung Preußens durch Napoleon nicht vergessen. Napoleon hatte Preußen im Jahr 1807 im Frieden von Tilsit einen überaus harten Friedensschluss diktiert, die symbolträchtige Quadriga des Brandenburger Tor als Siegestrophäe nach Paris transportieren lassen, zahlreiche Kunstschätze geraubt und sehr private Briefe seiner Mutter Königin Luise veröffentlicht. Als König Wilhelm zum Feldzug gegen Frankreich aufbrach, besuchte er zuvor den Sarkophag seiner Mutter im Mausoleum des Parks von Schloss Charlottenburg. Dort legte er symbolisch einen Blumenstrauß mit Kornblumen nieder, eine Erinnerung an seine Mutter, als diese während eines Radwechsels bei einer Reisekutsche einen kleinen Blumenstrauß aus Kornblumen geflochten hatte. Wilhelm betrachtete die Wahl des Spiegelsaals im Schloss Versailles als Ort der Reichsgründung daher als eine gerechte Genugtuung gegenüber dem rücksichtslosen Verhalten Napoleons.
Der Reichstag in dem von Bismarck geschaffenen Deutschen Reich wurde zwar in freien, gleichen und geheimen Wahlen gewählt, aber die eigentlichen Stützen des Staates waren Armee und Verwaltung. Auf diese hatte die Volksvertretung keinen Einfluss. Unter Bismarcks Führung erklärte das Deutsche Reich sich nach der Gründung des Nationalstaates als saturiert und betrieb als Makler zwischen den Großmächten eine in der ganzen Welt viel bewunderte Friedenspolitik. Innenpolitisch beging Bismarck mit seinem Kulturkampf gegen den Katholizismus und seinem Kampf gegen die Sozialdemokratie gravierende Fehler, die sich verhängnisvoll für die Zukunft Deutschlands auswirken sollten. Die Einführung der Zivilehe, der staatlichen Schulaufsicht sowie einer Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung sind hingegen Meilensteine auf dem Weg zu einem modernen Sozialstaat.
Es war Deutschlands Unglück, dass ab dem Dreikaiserjahr 1888 der neue Kaiser Wilhelm II. in seinem Amt völlig überfordert war und gegen Bismarcks Willen Weltpolitik betreiben wollte. Zugleich gab es durch die Reichsverfassung keine Möglichkeit, die Machtfülle des Kaisers einzuschränken. Durch Bismarcks in vielen Bereichen fehlerhafte Innenpolitik war der Sinn für Freiheit, Unabhängigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit in Deutschland erheblich geschwächt worden. Bismarcks ausgeprägte Interessen- und Realpolitik hat einerseits in faszinierender Weise zu Deutschlands Größe und internationaler Anerkennung geführt. Andererseits hat diese Politik die Eigenständigkeit im Denken der Bürger entscheidend geschwächt und eine Entwicklung zu einer Demokratie nachhaltig verhindert. Bismarck hat die wichtige Funktion von Parteien im Machtgefüge nie angemessen erkannt, sondern diese lediglich als Spielball für seine monarchischen Interessen gegeneinander ausgespielt. Der von Bismarck geschaffene Staat stützte sich im Wesentlichen auf den Adel, das Militär und das Großbürgertum. Das Kleinbürgertum, Angestellte und Arbeiter wurden an politischen oder verwaltungsrechtlichen Entscheidungen nicht beteiligt. Wichtige Entscheidungen wurden „von oben“ gefällt, so dass zahlreiche Bürger nie zu verantwortlicher Mitarbeit am Staat herangezogen wurden.
Das Deutsche Reich besaß zwar das demokratischste Wahlrecht seiner Zeit, aber gleichzeitig konnte die Regierung weitgehend unabhängig vom Volkswillen handeln. Auch wenn viele Wünsche der Liberalen nicht erfüllt wurden, so stimmte der Abgeordnete Eduard Lasker im Norddeutschen Reichstag der Reichsgründung mit den drastischen Worten zu: „Hässlich ist das Mädel, aber geheiratet werden muss es“. Für Deutschlands Schicksal war es viel zu spät, dass das Reich erst am 28. Oktober 1918 durch eine Verfassungsänderung zu einer parlamentarischen Demokratie umstrukturiert wurde. Die neue Reichsflagge des Jahres 1871 dokumentiert, wie wenig die Ideen der Nationalversammlung der Jahre 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche verwirklicht wurden. Als Flagge wurde nicht die schwarz-rot-goldene Farbe der damaligen nationalen Volksbewegung gewählt, sondern man entschied sich für die Farben Schwarz-Weiß-Rot, den Farben von Preußen (Schwarz-Weiß) als dem größten Einzelstaat und den Farben der Hansestädte (Weiß-Rot) als den kleinsten Mitgliedern.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das Scheitern der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche einen entscheidenden Wendepunkt in der deutschen Geschichte darstellt. Die Verabschiedung der „Grundrechte des deutschen Volkes“ und die Idee der Volkssouveränität standen in einem diametralen Gegensatz zu der Vorstellung vom Gottesgnadentum der Königshäuser. Die Nationalversammlung bot 1849 dem preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone an, doch dieser lehnte sie ab. Eine mit demokratischem Öl gesalbte Kaiserkrone bezeichnete er als ein „Hundehalsband“ und als eine „Schweinekrone“, die mit „Dreck und Letten“ sowie dem „Ludergeruch der Revolution“ behaftet sei. Sollte die tausendjährige Krone deutscher Nation wieder einmal vergeben werden, so sei er es und seinesgleichen, die sie vergeben würden. Hätten die Ideen einer Volkssouveränität durch die Paulskirchen-Nationalversammlung in den Jahren 1848/49 realisiert werden können, dann hätte die deutsche Geschichte sicherlich einen völlig anderen Weg eingeschlagen und einen Ersten und einen Zweiten Weltkrieg hätte es vermutlich nicht gegeben.