Von Andreas Anders
Das war er nun, der 9. November 2019, der 30. Jahrestag des Falls der deutsch-deutschen Grenze. Es war übrigens auch der Jahrestag der „Reichspogromnacht“ (1938), des Hitler-Ludendorff-Putsches (1923) und der Novemberrevolution 1918 (Ausrufung einer deutschen Republik). Doch gestern zählten die positiven Erinnerungen an den Tag des Mauernfalls. Mit vielen Fotos, ein paar bewegten Bildern und zahlreichen Zeitzeugenberichten wurden diese Momente der deutsch-deutschen Glückseligkeit wieder heraufbeschworen. Letzteres funktioniert neben Berlin wahrscheinlich im ehemaligen Grenzgebiet, Herzogtum Lauenburg und Nordwestmecklenburg, besonders gut. Nur hier hatten die Menschen über Jahrzehnte den Grenzzaun samt Todesstreifen direkt vor Augen und waren von den Nachbarn getrennt. Für sie war direkt greifbar, was der ‚Kalte Krieg‘ bedeutet.
Umso verständlicher scheint es, dass genau diese Menschen umso erleichterter und glücklicher waren, als endlich wieder ein freier Grenzverkehr möglich war. Diese Menschen aus der Grenzregion waren es auch, die sich in diesem Moment der Erleichterung als erste endlich wieder trafen und in die Arme schließen konnten. Alle anderen Bürger der damaligen BRD und DDR erlebten dies in der Regel nur aus der Ferne im TV. Wer also dichter an der Grenze wohnte, konnte damals eher von ihrer Öffnung profitieren. Wer weiter weg wohnte und gar zu jung oder noch gar nicht geboren war, dem fehlen möglicherweise diese ersten Momente puren Glücks.
Das ist wahrscheinlich die Erklärung oder zumindest ein Teil der Erklärung, warum gestern hunderte von Menschen zwischen Mustin und Roggendorf, in Ratzeburg und vielen anderen Orten an der ehemaligen Grenze zusammenkamen, sich erneut über 30 Jahre Mauerfall freuten und zusammen feierten. Während in Städten und Orten weiter im Westen und weiter im Osten zumeist nicht gefeiert wurde.
An der B208, zwischen Mustin und Roggendorf, war das auf 300 Personen ausgelegte Festzelt bereits weit vor 14 Uhr zum Bersten gefüllt. Bei reichlich Kaffee und Kuchen kamen die Menschen aus Dechow, Mustin, Roggendorf oder der weiteren Umgebung zusammen. Mittendrin auch Kreis- und Landtagspräsidenten, Minister, Bürgermeister und weitere Persönlichkeiten aus der Politik, die an diesem Tag zum Teil eine ganze Tournee von Grenzöffnungsfeiern zu absolvieren hatten. Hier am ehemaligen Grenzübergang an der B208 sollte es aber ein Fest für die Bürger sein. Einzelne Zeitzeugen kommen unter der Moderation von Wolfram Pilz (NDR) kurz zu Wort. Zuvorderst bereits erwähnte Politiker, die sich fast alle an die Vorgabe halten, kein langatmiges Grußwort zu sprechen. Während die Politik schon zum nächsten Gedenkfest des Tages eilte, feierten die Bürger von Mustin, Roggendorf und Dechow noch lange weiter, bei Livemusik und später auch vom „Plattenteller“.
In Ratzeburg war es die Inselstadt, die zusammen mit ihrer mecklenburgischen Partnerstadt Schönberg zu feiern einlud. Nach einem gemeinsamen Gottesdienst im Ratzeburger Dom ging es in einer Lichterprozession zum Marktplatz, wo die Stadt ab 17.30 Uhr zum kostenfreien Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn eingeladen hatte. Von einer Bühne aus und vor reichlich Publikum begrüßte Bürgervorsteher Ottfried Feußner die Gäste aus Schönberg, Abgeordnete des Kreistags, Mecklenburgs Innenminister Lorenz Caffier, Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, Landtagspräsident Klaus Schlie, die Präsidentin des Mecklenburgischen Landtags, Birgitt Hesse, sowie Kreispräsident Meinhard Füllner.
„Die Freiheit ist das, was wir uns 1989 im Osten erkämpft haben“, erinnerte Caffier an die friedlichen Montagsdemos der DDR, die dem Mauerfall vorausgegangen waren, „Wir sollten nicht so viel über Grenzen reden, sondern mehr über Gemeinsamkeiten.“ Diesen Faden hob Klaus Schlie sogleich auf und schlug vor, die Nachbarschaft im ehemaligen Grenzraum wieder viel stärker zu pflegen. So lud er die Mecklenburgischen Landtagsabgeordneten zum Besuch nach Kiel ein.
„Es ist zusammen gewachsen, was zusammen gehört“, sei der schönste Satz zur deutschen Einheit findet Birgit Hesse. Der Mauerfall sei nicht nur Verdienst des Helmut Kohl und Michail Sergejewitsch Gorbatschow, sondern vor allem der Bürger der DDR. „Wir dürfen trotzdem nicht in der Vergangenheit verharren“, so Hesse weiter, die die Einladung nach Kiel dankend annahm.
„Wir haben damals viele tolle Kontakte geknüpft. Leider sind diese wieder etwas eingeschlafen. Ich freue mich, wenn wir das wieder aufleben lassen“, sprach Meinhard Füllner nach der Ankündigung von Ratzeburgs Bürgermeister Gunnar Koech, dass man sich dies im Falle der Städtepartnerschaft mit Schönberg bereits vorgenommen hätte.
Anschließend ging es mit anwesenden Präsidenten und den Freunden aus Schönberg zum gemeinsamen Eisstockschießen, bevor die Jugend wieder die Bahn entern durfte. Doch an dieser Stelle war lange noch nicht Schluss. Unter dem Titel „Das längste Gespräch entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze“ hatte die Bundesregierung eingeladen. Unter viel Aufwand an vier Orten wurde entlang der ehemaligen Grenze jeweils ein Studio aufgebaut – so auch in der Ratzeburger St. Petri Kirche. Holzbänke und anderes Interieur hatte man ausgebaut und der Stadtkirche ein gemütliches Innenleben verschafft. Per Livestream wurde dann kurz nach 22.30 Uhr die Sendung im Internet übertragen. Wer keinen Platz in der Kirche hatte, konnte die Sendung draußen auf dem Marktplatz oder zuhause am heimischen
PC verfolgen. Also Studio- beziehungsweise Talkgäste waren Detlef D. Soost, Tänzer, Choreograf und Fitnesscoach, Ella Endlich, Musical-, Pop- und Schlagersängerin, Verena Schott, paralympische Schwimmerin und Weltmeisterin sowie Dr. Clara Herdeanu, Linguistin und Stipendiatin der Deutschlandstiftung, eingeladen. Sie wurden zu ihrem Bezug und ihren Erinnerungen zum Mauerfall befragt. Dazwischen kleine Einspieler und Musik. Es wurden während der zirka einstündigen Sendung auch einige Ratzeburger, darunter auch Schüler der Lauenburgischen Gelehrtenschule zu ihrem Bezug zum Mauerfall befragt. Hier blitzte kurz etwas auf. In Ratzeburg und den umliegenden Gemeinden gibt es unzählige Zeitzeugen, die viele spannende und bewegende Eindrücke aus der Zeit vor, während und nach der Grenzöffnung erzählen können. Wenn schon aus Ratzeburg gesendet wird, hätte man vielleicht auch vornehmlich Menschen aus dieser Region zu Wort kommen lassen sollen, statt Prominente mit überschaubarem Bekanntheitsgrad. Diese waren zwar sympathisch und hatten auch etwas zu sagen, doch hätte die Talkshow so auch an jedem anderen Ort der Republik statt finden können. Schade!