Ratzeburg (pm). Mehr als 800 Familien, Paare und Einzelpersonen mit Migrationsgeschichte suchen pro Jahr Hilfe beim Diakonischen Werk in Ratzeburg. Beratung, Unterstützung bei der Integration, Demokratieförderung – mehr als 2000 Gespräche hat es allein 2022 in der Region gegeben. Doch damit könnte bald Schluss sein, sagt Ulf Kassebaum, Leiter des Diakonischen Werks in Ratzeburg. Auslöser sind angedrohte Kürzungen staatlicher Integrationsleistungen. Propst Philip Graffam bezeichnet das Vorhaben als menschliche Katastrophe und warnt vor gesellschaftlichen Konsequenzen.
„Wir sehen mit großer Sorge und Unverständnis, dass es auf bundespolitischer Ebene Überlegungen gibt, Angebote zur Integration von Menschen, die schlimme Erfahrungen von Flucht und Vertreibung hinter sich haben, zu kürzen“, kritisiert Ulf Kassebaum. Bundesweit schlagen Interessens- und Betroffenenverbände Alarm. Mit einer Petition wollen die Freien Wohlfahrtsverbände in Schleswig-Holstein den drohenden Kahlschlag in der Migrationsberatung verhindern. Auslöser: Der Bund will bei der Migrationsberatung sparen. Laut Haushaltsentwurf der Berliner Ampelkoalition sollen 30 Prozent der bisherigen Förderungen gestrichen werden. Für psychosoziale Angebote für Geflüchtete ist eine Reduzierung öffentlicher Mittel um 60 Prozent in der Diskussion. Auf Schlag würden 57,5 Millionen Euro wegfallen. Die Konsequenzen wären verheerend, warnen Experten. Im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg und beim Diakonischen Werk im Herzogtum Lauenburg drohen angesichts möglicher Finanzlöcher harte Einschnitte bei den Hilfsangeboten für Migranten.
Für Ulf Kassebaum, Geschäftsführer des Diakonischen Werks, wäre das inakzeptabel: „Für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die gemeinsame Lösung der großen Probleme, vor denen wir als Gemeinschaft stehen, benötigen wir diese Angebote. Sie helfen Menschen, unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Bürokratie – unser Leben in Deutschland zu verstehen.“ Durch die Arbeit der Migrationsberatung würden Geflüchtete in der Mitte der Gesellschaft ankommen. „Diese Arbeit hilft dabei, Parallelgesellschaften zu vermeiden. Sie hilft, Akzeptanz und Verständnis für Unterschiedlichkeit zu fördern. Sie hilft, unser wertvolles demokratisches Miteinander zu verstehen und zu erhalten“, mahnt Kassebaum.
Vor allem bei staatlichen Unterstützungsangeboten, Sprachkursen, sozialen Angeboten, der Integration in den Arbeitsmarkt oder bei medizinischen Themen leiste die Migrationsberatung existenziell wichtige Unterstützung. „Oft sind es bürokratische und sprachliche Hürden, die die Beraterinnen und Berater zu überwinden helfen. Das Angebot ist als Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert – das heißt, die Ratsuchenden lernen durch die Beratungsgespräche in zukünftigen Situationen selbst kompetent zu handeln und geben ihr Wissen oft sogar weiter“, erläutert Kassebaum.
Seine Sorge gilt aber auch der Zukunft der sogenannten Respect Coaches, die im Bereich der Demokratieförderung wichtige Inhalte vermitteln, wie Respekt lernen, Vorurteile abbauen, Strategien gegen Rassismus, Intoleranz und Ausgrenzung entwickeln. „Dieses Angebot, aus Bundesmitteln finanziert, soll komplett gestrichen werden. Hier haben wir jährlich etliche Schulklassen mit vielen hundert Schülern erreicht“, sagt der Diakonie-Chef.
Schlimmstenfalls müssten Angebote gestrichen werden und Fachkräfte, die in diesen Bereichen tätig sind, entlassen werden. Kassebaum spricht von einem „völlig verfehlten Sparvorhaben“ des Bundes. Mehr noch. Er mahnt: „Langfristig entstehen durch dieses Vorhaben im Bereich der Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die hier bei uns angekommen sind und bleiben werden, Probleme, deren Lösung uns recht wahrscheinlich noch teurer werden wird.“
Vor den Konsequenzen warnt auch Philip Graffam, Propst im Herzogtum Lauenburg. Er mahnt: „Ziel von Integration ist es, den Zusammenhalt in der ganzen Gesellschaft zu stärken. Von einer möglichst schnellen und nachhaltigen Integration profitieren nicht nur die Menschen, die zu uns kommen, sondern wir alle. Integration betrifft dabei Alteingesessene ebenso wie Zugewanderte, besonders im Blick auf die fehlenden Fachkräfte.“ Das gesellschaftliche Zusammenleben solle von Respekt, gegenseitigem Vertrauen, von Zusammengehörigkeitsgefühl und gemeinsamer Verantwortung geprägt sein. „Die Integration von Zugewanderten muss Chancengleichheit und die tatsächliche Teilhabe in allen Bereichen ermöglichen, insbesondere am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben“, appelliert Philip Graffam.
Große Hoffnungen setzten der Propst und der Geschäftsführer des Diakonischen Werks im Herzogtum Lauenburg auf einen Erfolg der Petition, die die Freien Wohlfahrtsverbände in Schleswig-Holstein initiiert haben. „Wir appellieren, sich an der Aktion zu beteiligen, um den Bund von seinem Vorhaben abzubringen“, sagt Ulf Kassebaum. Und die Zeit drängt: Bereits am 16. November 2023 will der Bundestag über die geplanten Kürzungen abstimmen. Zur Petition gelangt man über den Link (HIER).