Ratzeburg (pm). Eine in vielerlei Hinsicht berührende und beeindruckende Lebensgeschichte durften Schüler der Gemeinschaftsschule Lauenburgische Seen vergangene Woche im Rahmen eines Begegnungsgespräches mit einem Überlebenden des Holocaust erfahren. Tswi Josef Herschel aus Israel stellte den Jugendlichen seinen „Lebenskalender“ vor, ein einzigartiges Dokument bestehend aus 24 Bildern einer Lebensvision, gezeichnet von seinem Vater, so wie er sich es für seinen Sohn vorgestellt und gewünscht hatte.
Tswi Herschel, geboren 1942 im holländischen Zwolle, durfte seinen Vater Nico und seine Mutter Ammy nie kennenlernen. Seine Eltern gaben ihn 1943, wissend das ihr eigener Weg aus dem Amsterdamer Ghetto in den Tod führen würde, im Alter von sechs Monaten in die Hände einer befreundeten niederländischen Familie, die ihn fortan als eigenes Kind mit dem Namen Henk großzog. Tswi Josef Herschel ahnte als Henk nichts von seiner jüdischen Identität und auch nichts von der großen Gefahr, die seine Pflegefamilie auf sich nahm, um ihn vor den Nazischergen zu verstecken.
Erst als nach dem Krieg seine Großmutter Rebecca, die einzige Überlende der Familie, erschien und ihn völlig unvermittelt und für ihn traumatisch zu sich nach Rotterdam holte, begann seine Suche nach seiner wahren Identität. Von seiner Großmutter, die den Holocaust überlebte, aber ihr Leben traumatisiert blieb, erfuhr er nur wenig über seine Herkunft. In seiner wachsenden Neugier setzte er sich über ihre Verbote hinweg und begann heimlich in ihren Unterlagen zu suchen. Er stieß auf die Namen seiner Eltern und erhielt als Jungerwachsener schließlich weitere Papiere, darunter seinen „Lebenskalender“, das Vermächtnis seines Vaters. Er erfuhr in vielen Jahren der Recherche, was aus seinen Eltern wurde, als sich ihre Wege in Amsterdam trennten. Über das holländische Judendurchgangslager Westerbork führte ihr Weg noch im gleichen Jahr direkt in den Tod im Vernichtungslager Sobibor. Tswi Herschel besuchte diesen Ort im südöstlichen Polen, der noch von den Nazis zum Zwecke der Vertuschung abgebrochen worden war und heute ein beklemmendes Waldstück über Massengräbern ist.
Seine jüdische Identität wurde für Tswi Herschel in der Folge immer bedeutsamer, insbesondere auch durch die Erfahrung, dass er vormals als Henk niemals eine Form von Ausgrenzung erfahren musste, aber als Tswi den zunehmenden Antisemitismus im Nachkriegsholland ganz persönlich erlebte. So reifte in ihm der Wunsch, ein Leben ohne die alltäglichen, mal subtil, mal offen geäußerten Anfeindungen, zu führen. Er emigrierte 1986 mit seiner Familie nach Israel, ganz wie sein Vater es sich in seinem „Lebenskalender“ für ihn gewünscht hatte und widmete sich in den Folgejahren zunehmend der Versöhnungsarbeit, als Botschafter der Geschichte, der eine bewegende Lebensgeschichte zu erzählen hat und dies mit stets offen und mit ausgestreckter Hand tun möchte. Vor den rund 50 Schüler*innen der Ratzeburger Gemeinschaftsschule aus der 10. Jahrgangsstufe, war es ihm besonders wichtig zu betonen, dass es ein junges holländisches Mädchen im Alter von 17 Jahren war, die ihn damals unter Lebensgefahr aus dem Amsterdamer Ghetto geschmuggelt und damit in unglaublicher Weise Zivilcourage bewiesen hatte. Erst viele Jahre später, so Tswi Herschel, habe er diese Frau ausfindig gemacht und sie aus Israel angerufen: „Sie wusste sofort, wer ich bin“, beschrieb Tswi Herschel dieses erste, sehr bewegende Telefonat. Solch einen Mut, so Tswi Herschel, wünsche er sich von allen Menschen, im Angesicht von Unrecht tätig zu werden.
Dessen Tochter Natalie, die ihren Vater auf den wiederkehrenden Reisen nach Deutschland begleitet, ergänzte seinen Lebensbericht, mit der eigenen Erfahrung, in einer Familie aufzuwachsen, der die Vergangenheit in großen Zügen fehlt. Sie beschrieb einen verkrüppelten Familienbaum, ohne jegliche Großeltern und mit vielen weiteren Ästen, die im möderischen Holocaust verdorrten.
In der anschließenden Gesprächsrunde, fragte eine Schülerinnen beinahe zweifelnd, ob Tswi Herschel heute überhaupt glücklich sein könne? Er bejahte dies mit Verweis auf seinen Lebensweg ganz im Sinne des beschriebenen „Lebenskalenders“ und auf seine wachsende Familie und vor allem mit Blick auf diese Begegnungen mit jungen Menschen, die ihm zuhören würden und in die er seine Hoffnung setze, dass solche eine Zeit des totalen Unrechts sich niemals wiederholen mag.
Das Zeitzeugengespräch wurde im Rahmen des Projektes „ZUGÄNGE SCHAFFEN“ des Vereins Miteinander leben e.V. in Mölln ermöglicht, das sich die Prävention von Antisemitismus in all seinen Facetten zum Ziel gesetzt hat und über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Modellprojekt gefördert wird. Dabei unterstützte der Verein Yad Ruth e.V. aus Hamburg, der regelmäßig Überlebende des Holocaust nach Norddeutschland zu Schulbesuchen einlädt.