Lübeck (pm). Diese Frau geht ins Gefängnis. Jeden Tag – freiwillig. Martina Zepke-Lembcke arbeitet als Seelsorgerin für die Nordkirche in der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Im oft rauen Haftalltag schafft die Pastorin mit persönlichen Gesprächen, Bibelgruppen und Gottesdiensten Momente der Menschlichkeit und Reflexion.
Kurze Begegnungen im Haft-Alltag
„Kommen Sie am Sonntag zum Gottesdienst?“, fragt Pastorin Martina Zepke-Lembcke eine Gefangene, die im Innenhof des Frauentraktes am Rande eines Beetes auf dem Kantstein in der Sonne hockt. Ein kurzes Gespräch, dann geht die Pastorin weiter. Hier im Innenhof sieht es an diesem Hochsommer-Tag fast einladend aus. Eine grüne Oase mit einigen Bäumen, Sportgeräten und blühenden Büschen umgeben von Wohntrakten mit vergitterten Fenstern. „Das gibt es nur im Frauentrakt und in der Sozialtherapie“, sagt Zepke-Lembcke. „Bei den Männern sieht es weitaus nüchterner aus. Da hat es zu viel Vandalismus gegeben.“
Hinter den Gefängnismauern der JVA Lübeck
Um zu ihrem Dienstzimmer zu gelangen, muss Martina Zepke-Lembcke viele schwere Türen mit einem großen Schlüssel auf- und wieder zu schließen. Am Tag legt sie manchmal drei bis vier Kilometer hinter den Gefängnismauern zurück. Mit einer großen Selbstverständlichkeit bewegt sich die 62-Jährige auf dem Gelände der JVA. Zwischen hohen Mauern und Stacheldraht grüßt sie sowohl andere Mitarbeitende als auch Häftlinge freundlich, führt hier und da immer wieder kurze Gespräche. Man müsse klar und bestimmt kommunizieren, betont sie: „Mit ‚es wäre toll, wenn oder wäre es möglich, dass‘, kommt man nicht weit“. Das habe sie erst lernen müssen, als sie vor sechs Jahren ihren Job antrat. Zuvor war sie lange beim Landesverein für Innere Mission in Rickling als Seelsorgerin in psychiatrischen Bereichen tätig.
Gottesdienst für Inhaftierte in der Gefängnis-Kapelle
Alle 14 Tage feiert Zepke-Lembcke den evangelischen Gottesdienst in der JVA-Kapelle. Genaugenommen sind es drei Gottesdienste hintereinander – für die Männer aus der Strafhaft, die Männer aus der U-Haft und die Frauen. Jeweils 24 Personen dürfen an so einem Gottesdienst teilnehmen. Die Anmeldung läuft über einen Antrag. Anträge, Listen, Protokolle und Absprachen gehören fest zu ihrem Arbeitsalltag.
An den anderen Sonntagen ist ihr katholischer Kollege zuständig. Außerdem gibt es in der JVA auch einen muslimischen Seelsorger. Neben den Gottesdiensten leitet die Pastorin mehrere Bibelgruppen mit sechs bis acht Häftlingen. Sie begleitet die Proben des Gefängnis-Chores und führt auch viele Seelsorgespräche, manchmal mehr als 60 im Monat.
Vom Haftalltag ablenken und den Blick weiten
Auch die JVA-Kirche ist mit einer schweren Eisentür gesichert. Die Inneneinrichtung der Kapelle ist mit ihrem Holzmobiliar und den moosgrünen Paramenten (Altarbehängen) stark in die Jahre gekommen. „Hier möchte ich dringend was verändern“, sagt Zepke-Lembcke. Trotzdem kommen viele Häftlinge immer wieder gern. „Viele sind Wiederholungstäter, was den Gottesdienstbesuch angeht!“, lacht sie.
Im Gottesdienst spielt eine Kirchenmusikerin Orgel, ein Häftling begleitet Lieder mit Gitarre und Gesang. „Das ist wie ein kleines Konzert.“ In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und dem Verein LifeMusicNow organisiert die Pastorin auch Konzerte in der JVA. „Solche Dinge weiten den Blick und lenken von den Themen des Haftalltags ab.“ Aus den Gottesdiensten dürfen die Besucherinnen und Besucher eine Blume mitnehmen. „Das ist ein Farbpunkt in ihrer Zelle.“
Gruppen für soziales Miteinander und Gespräch
In ihrem kleinen Büro mit vergitterten Fenstern gibt es eine kleine Sitzecke. Hier finden die Bibelrunden statt: „Die Gruppen sind enorm wichtig, denn im Haftalltag der Männer gibt es kaum soziales Miteinander“, so Zepke-Lembcke. Meist steht ein biblisches Thema im Mittelpunkt des knapp zweistündigen Treffens. Gerne liest sie auch ein Buch mit den Teilnehmenden. „Wir setzen uns mit Gottesvorstellungen auseinander. Was ist mein persönlicher Verhaltenskodex? Woran glaube ich, wenn ich nicht an Gott glaube?“ Immer gibt es Kaffee, Tee und Kekse. Mit den Frauen bastelt sie auch mal etwas.
Schutzraum in der Seelsorge
„Im Kontext der Haft gibt es sehr viel Misstrauen“, schildert Pastorin Zepke-Lembcke: „Das Misstrauen erzeugt viel Einsamkeit und Stress. Vertrauen ist hier drinnen ein hohes Gut.“ Ihre Seelsorge-Arbeit sieht sie als Schutzraum. Sie erlebt immer wieder, dass sie auch mit Gefangenen eine Vertrauensbasis aufbauen kann: „Sie wissen, dass wir Seelsorgenden nichts weitererzählen. Was sie hier erzählen, bleibt auch hier. Sie können aussprechen, was sie beschäftigt. Es dürfen Tränen fließen. Dafür ist auf den Stationen kein Platz. Dort zeigt man keine Gefühle.“
Durch die vertrauensvolle Beziehung zu den Gefangenen fühlt sie sich sicher, sagt sie: „Diese Beziehung muss immer wieder hergestellt werden und sich im Alltag bewähren.“ Zusätzlich geschützt ist die Pastorin durch ihr Personennotrufgerät, mit dem sie schnell eine Verbindung zum Wachpersonal herstellen kann.
Einsatz gegen das Verlorengehen
Als Seelsorgerin arbeitet sie auch gegen das ‚Verlorengehen‘ an: „Es gibt langstrafige Häftlinge, die müssen mindestens 15 Jahre aushalten. Die Situation ist geprägt von Deprivation – also von mangelndem Erleben und sozialer Interaktion. Es ist eine starke Reizarmut. Du schwimmst nicht in der Ostsee, du gehst in kein Konzert und hast kein Naturerleben. Es ist zum einen ein Freiheitsentzug, aber es geht auch sonst sehr viel verloren.“ Sie kenne einen Mann, der bereits seit 39 Jahren im Gefängnis sei. „Er weiß nicht mal, wie ein Smartphone aussieht oder wie man es bedient.“
Kennenlernen zwischen Vater und Baby
„Ein anständiges Leben und Wertschätzung muss auch hier drinnen irgendwie möglich sein“, findet Zepke-Lembcke. „Man muss die meisten irgendwann entlassen und möglichst so, dass sie sich draußen wieder sozial verhalten können.“ Ein echter Spagat. Sie versucht, vieles möglich zu machen. Ein Inhaftierter war gerade Vater geworden, seine Frau wollte mit dem Baby zu Besuch kommen, wollte aber nicht im Besuchsraum stillen.
Zepke-Lembcke erwirkte erweiterte Besuchszeiten. Außerdem durften die Treffen in ihrem Büro stattfinden: „Es war schön zu sehen, wie der Vater eine Beziehung zu seinem Kind aufbauen konnte.“ Für solche Fälle gibt es im Dienstzimmer der Pastorin auch Spielzeug, Kinderbücher und eine Spieldecke.
Ein anderes Leben ist möglich
Schuld, Scham und Reue, auch damit hat die Pastorin viel zu tun. Sie hat jeden Tag Kontakt mit Mördern, Pädophilen und anderen schweren Straftäterinnen und -tätern: „Da gibt es sehr intensive Gespräche. Manche fragen sich: Darf es mir hier so gut gehen, habe ich das überhaupt verdient? Wie kann ich mir selbst vergeben?“
Ihr ist es wichtig, Wege aus der Schuld aufzuzeigen. „Wir können neu anfangen, nach anderen Maßstäben leben. Wenn wir bereuen und unser Leben ändern, dann haben wir auch das Recht, neu zu leben.“ Sie müsse da oft an die biblische Geschichte von Kain und Abel denken. „Kain wird von Gott unter Schutz gestellt, nachdem er Abel erschlagen hat. Er darf nach Gottes Willen nicht getötet werden. Aber er trägt das Kainszeichen an sich. Ein Schaden bleibt, aber das Leben ist nicht verwirkt.“
Lichtmomente im herausfordernden Alltag
Auf die Unmengen ‚Verwaltungskram‘, die für ihren Beruf nötig sind, würde sie manchmal lieber verzichten. Was es noch braucht: Flexibilität und eine hohe Frustrationsschwelle. Letztes Jahr musste das liebevoll vorbereitete Weihnachtskonzert mit Kaffeetrinken ausfallen, weil kurzfristig nicht genügend Wachpersonal da war. Der Umgang mit Abschiebesituationen und Zweifel an der Gerechtigkeit der deutschen Justiz – all diese Themen gehören zum Alltag.
Dennoch gibt es viele Lichtmomente: „Wenn man hier drinnen mit jemandem lachen kann, wenn das Leben für einen kurzen Augenblick einfach menschlich ist“, dafür liebt Zepke-Lembcke ihre Arbeit. „Einem Menschen Mut zu machen, dass er draußen Fuß fassen kann. Oder zu sehen, dass jemand Arbeit gefunden hat, eine Wohnung und eine funktionierende Partnerschaft. Wenn ich Menschen in der Stadt begegne und sehe, es geht ihnen besser.“
JVA-Pastorin berichtet auf Instagram
Sie selbst verarbeitet das Erlebte, indem sie die Supervision besucht, ihre Arbeitswege häufig zu Fuß zurücklegt, aber auch durch eine stille Zeit des Gebets am Morgen. „Sich freuen an dem, was klappt und kleine Dinge, die wohltun, nicht zu übersehen“, das gibt ihr Kraft. Viele solche Momente hält sie auch auf ihrem Instagram-Kanal @jvapastorin fest.
Ihre christliche Überzeugung „Jeder Mensch ist es wert, gesehen zu werden“ lässt sie jeden Tag für die Menschen da sein, mit denen der Rest der Gesellschaft wenig zu tun haben möchte.