Ratzeburg (pm). Die Volkshochschule Ratzeburg und Umland begibt sich auch in diesem Jahr wieder auf eine Spurensuche zu Antisemitismus und jüdischen Leben in der Region. Unter dem Titel „Damals ist heute“ wird der Fokus dabei auf Erinnerungsorte und auf Täterschaften liegen.
Geplant sind Vorträge, Exkursionen, aber auch angeleitete Biographiearbeit, die einladen will, sich mit der eigenen Familiengeschichte in der NS-Tätergesellschaft auseinanderzusetzen. „Wir möchten im Jahresverlauf mit unterschiedlichen Angeboten Raum und Möglichkeiten schaffen, sich aktiv mit Antisemitismus im regionalen und familiären Kontext zu beschäftigen, um dessen Zeichen in der Gegenwart erkennen und ihnen zivilcouragiert begegnen können,“ sagt Volkshochschulleiterin Silvia Tessmer. Die Veranstaltungsreihe startet am Montag, 27. März 2023 um 19 Uhr mit einer Lesung des Journalisten Jürgen Gückel in der Aula der Lauenburgischen Gelehrtenschule. Er liest aus seinem Buch »Klassenfoto mit Massenmörder«.
Niedersachsen im August 1961. Der Klassenlehrer Walter Wilke wird in seiner Dorfschule aus dem Unterricht abgeholt und später in einem der ersten großen Prozesse über deutsche Verbrechen in Osteuropa verurteilt. In seinem kleinen Ort wird über die Sache nicht gesprochen. Später kehrt der Mann zurück und lebt bis zu seinem Tod 1989 zurückgezogen im Dorf. Jürgen Gückel, mehrfach ausgezeichneter Gerichtsreporter, geht einer Spur nach. Einer Geschichte, die ihn seit der Schulzeit beschäftigt, denn Walter Wilke war sein erster Lehrer. Gückel rekonstruiert einen einzigartigen Lebensweg: „Walter“ war in Wahrheit Artur Wilke, der die Identität seines gefallenen Bruders angenommen hatte. Artur selbst war studierter Theologe und Archäologe, im Dritten Reich der SS beigetreten, nachweislich an Massenerschießungen von Juden beteiligt, galt als gefürchteter Partisanen-Jäger und wurde nach dem Krieg dann – Volksschullehrer. Sein Name ist mit grauenhaften Kriegsverbrechen verbunden, doch zur Rechenschaft gezogen wurde er für seine Taten im Partisanenkampf nie. Das Buch zeichnet nicht nur eine spektakuläre deutsche Biografie im 20. Jahrhundert nach – die Entwicklung eines Intellektuellen zum Täter und die Verneinung jeglicher persönlicher Schuld, das Wegsehen der Gesellschaft. Es zeigt auch auf, wie schwierig das Erinnern ist, wie unterschiedlich Erlebtes bewertet wird und wie schwer die Erarbeitung historischer Wahrheit letztlich ist. Auch nach der Sichtung mehrerer zehntausend Seiten Gerichtsakten und anderer Dokumente bleiben scheinbar einfache Fragen offen.
Dank der Förderung durch die Partnerschaft für Demokratie ist der Eintritt ist kostenfrei. Ein barrierefreier Zugang ist möglich. Jürgen Gückel wird im Rahmen seines Besuchs in Ratzeburg auch an den beiden weiterführenden Schulen vor Schülerinnen und Schülern der oberen Jahrgänge lesen und diskutieren.