Ratzeburg (pm). „Warum bleiben wir so ruhig, wenn das Leben um uns herum stirbt?“ fragt Dr. Tanja Busse sich in ihrem Eröffnungsvortrag der Kultur- und Umweltwochen 2022 des Forums für Kultur und Umwelt Herzogtum Lauenburg letzten Freitag. Ein voller Saal lauscht ihr und den Begrüßungsreden vom Vorsitzenden des Lauenburgischen Kunstvereins Dr. William Boehart sowie dem Landrat Dr. Christoph Mager. Der Kristallleuchter des opulenten Rokkokosaals im Kreismuseum Ratzeburg glitzert behaglich, aber wenn man sich von den kunstvollen Stuckverzierungen nicht ablenken lässt, sieht man die fix übermalten Wasserschäden in den Ecken.
Krisen gibt es viele. Immer mehr werden sie auch für uns greifbar, da sie sich auf unser Leben auswirken: die Klimakrise, die Ernährungskrise, das Höfesterben und Land Grabbing, soziale Ungleichheit, Krieg. Die Krise des Massenaussterbens von Arten wird dagegen noch immer übersehen. Auch Tanja Busse wurde erst in der Recherche zu ihrem Buch „Das Sterben der anderen – wie wir die biologische Vielfalt noch retten können“ bewusst, wie dramatisch die Situation ist. Denn Biodiversitätsverlust ist irreversibel. Arten sind in einem Ökosystem miteinander vernetzt – wenn eine verschwindet, hat es immer Auswirkungen und häufig verschwinden auch jene, mit denen sie interagieren. Das Verschwinden einer Art kann zum Kollabieren ganzer lokaler Ökosysteme führen, auf die wir als Menschen zum Überleben angewiesen sind. Oder anders herum: Die Existenz einer Art kann also ganze Ökosysteme lebensfähig erhalten.
Wissenschaftler sagen, dass zirka eine Million Arten in den nächsten Jahrzehnten verschwinden werden. Dies ist ein Massenaussterben von einem solchen Ausmaß, wie es zuletzt vor 66 Millionen Jahren gab – nicht das erste, aber das erste Massenaussterben hervorgerufen von einer Art, dem Menschen. „Die Klimakrise bestimmt, wie wir leben werden, die Biodiversitätskrise bestimmt, ob wir leben werden“, zitiert Tanja Busse den Journalisten, Fernsehmoderator und UN-Botschafter für die Dekade biologische Vielfalt, Dirk Steffens.
Aber warum beunruhigt uns das nicht? Tanja Busse erklärt es sich durch shifting baselines, also unterschiedlichen Vergleichsmaßstäben für die Wahrnehmung von Veränderung, in diesem Fall der Biodiversität: „Wir können es nicht wahrnehmen, weil wir uns nur an das erinnern, was wir als Kinder kannten. Aber über die letzten 150 Jahre gab es extrem viele Veränderungen“. Den anderen Grund dafür sieht Tanja Busse in einem ökologischen Analphabetismus: Stellen Sie sich Ihr nächstgelegenes Naherholungsgebiet vor: so wunderschön anzusehen, der Waldgeruch, das Glitzern des Sees. Nur die Spezialisten sehen sofort, wo die Missstände sind, wie sich die Auswirkungen der Zerstörung von Lebensräumen, invasiver Arten, Umweltgiften, der Klimakrise, der Flächenversiegelung und Jagd in der Natur bemerkbar machen – wir normalen Bürger haben es nicht gelernt, sondern sind Analphabeten auf dem Gebiet. Es kann uns also nicht erschrecken, was wir nicht sehen.
Dabei sei nicht eine Gruppe schuld betont Tanja Busse, sondern unsere (westliche) Art zu leben und zu wirtschaften. Zumal eine Schuldzuweisung zwecklos ist, denn wir alle sind daran beteiligt und es führt zu keiner Lösung. „Lösungen zur Biodiversitäts- und Klimakrise sind bekannt. Nur nicht, wie man sie erreicht“ Aber die Redakteurin, Journalistin, Moderatorin und Autorin hat dazu einen Vorschlag: „Diese Krisen nicht als Einzelprobleme denken, sondern zusammen denken und gemeinsam lösen!“
Leitbild für ihre Win-Win Lösung ist die Planetary Health Diet der EAT-Lancet-Comission, die unter dem Vorsitz von Walter Willett und Johan Rockström etliche Wissenschaftler und Spezialisten aus 16 Ländern aus unterschiedlichsten Gebieten wie dem Gesundheitswesen, Landwirtschaft, Politikwissenschaften und ökologischer Nachhaltigkeit zusammengebracht haben, um Lösungsvorschläge für eine gesunde und gleichzeitig auch nachhaltige und auf unserem Planeten realisierbare Ernährungsweise zu geben. Tanja Busse fasst es so zusammen: „ Eigentlich alles, was wir jetzt auch essen – also auch Fleisch, aber weniger – minus das, was aus einer Plastiktüte kommt“.
Alles greift ineinander hinein: „Die Vielfalt, die ich auf meinem Teller brauche, sehe ich dann auch im Außen, in der Landschaft: Denn die (wenigen) Kühe, die draußen auf wilden Weiden weiden, würden nicht nur Humus aufbauen, welcher CO2 speichert, sondern deren Fladen würden wieder Vögeln Futter liefern“. Um dies zu erreichen, müsse resiliente Ernährung aber eine Pflichtaufgabe der Kommunen werden. In welchen, so schlägt die Referentin vor, es regionale Foren gibt, die mit Wasserwirtschaft, Naturschutz, Landschaftsplanung, Kantinen, Landwirtschaft, Klimaschutz, Mediziner*innen, Kommunen, Schulen und Wirtschaft zusammenarbeiten. Also eine öffentliche Beschaffung von regionalen Bio-Lebensmitteln als Treiber der Bewältigung dieser Krisen – mithilfe, am besten getragen, durch eine Förderung für Agrarumwelt- und Klimaschutzmaßnahmen nach dem niederländischen Modell.
Dazu kommt auch gleich ein Vorschlag zum Umsetzen in die Praxis aus dem Publikum mit Blick auf den Landrat Dr. Mager: „Ein guter und machbarer erster Schritt in diese Richtung wäre doch, unsere Domänen schrittweise auf biologische Bewirtschaftung umzustellen und die dort erzeugten Lebensmittel in unseren öffentlichen Kantinen und Großküchen zu verarbeiten!“ Nach einer regen Diskussion mit dem Publikum verlassen wir den (noch) wohltemperierten Saal und gehen nachdenklich und ideenreich unserer Wege.
Eine ergänzende Weiterführung wird der Markt „So schmeckt die Region“ am 2. Oktober auf dem Ratzeburger Marktplatz sein: neben der Vorstellung regionaler Bio-Lebensmittel zum Kauf und Verzehr wird es auch Vorträge und Informationen über Nachhaltigkeit, Naturgärten, Zukunftspflanzen, Saatgut sowie der Gründung einer Slow Food Community geben– vielleicht mit genau diesem Thema. Und für Tanja Busses Lösungsansatz, an einem Tisch zusammenzukommen, gibt es auch schon einen Termin: den 20. November. Der LKV organisiert zusammen mit vier Kooperationspartnern (Tourist-Information RZ, Ev. Frauenwerk, Grenzhus, Kloster- und Stadtinformation Rehna) das Tagesseminar „Wo wollen wir hin?, Teil 2. Möglichkeiten der nachhaltigen grenzübergreifenden Regionalentwicklung.“ Näheres unter www.lkvrz.de