Zittau/Ratzeburg (lo). Fast sein halbes Leben lang prägte er als begnadeter Organist, vielseitiger Komponist und virtuoser Orchesterchef die Kirchenmusik am Dom zu Ratzeburg. Neithard Bethke – Kirchenmusikdirektor, Ehrenprofessor des Landes Schleswig-Holstein, Doktor der Geschichts- und Musikwissenschaften und vormaliger Gemeindewehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Ratzeburg – vollendet am 2. April 2022 in Zittau/Sachsen sein 80. Lebensjahr.
„Fire Chief“ stand auf seinem Auto vor dem Organistenhaus auf der Domhalbinsel der Kreisstadt und auf der Rückbank lagen Helm und Pulverlöscher neben Taktstock und einer Partitur des Deutschen Bachorchesters. Ein Leben zwischen Rieger-Orgel und Kommandowagen, zwischen geistlich-künstlerischer Inspiration im romanischen Backsteindom und praktischer Hilfs- und Christenpflicht im Not- und Brandfall. Von Anfang an bis heute bestimmt ein Dreiklang dieses mit unbändigem Tatendrang angefüllte Leben. Da ist zum ersten der christliche Glaube, Bethke wächst in einem evangelischen Pfarrhaus auf, der Vater ist Missionar und Pastor. Früh kommt die Liebe zur Musik hinzu, die Mutter ist Deutschlands jüngste Klavier-Professorin und seine erste Musiklehrerin. Glaube und Musik werden komplettiert durch eine große Familie, Neithard Bethke ist das achte von zehn Geschwistern, Leben in einer großen Gemeinschaft, eine Vorahnung auf seine spätere Vorliebe für das gemeinsame Singen und Musizieren mit großer Chor- und Orchesterbesetzung. Wöhrden in Dithmarschen ist am 2. April 1942 der Geburtsort. Ein Landesteil, dem man nachsagt, Menschen mit Bodenständigkeit und Grundsätzen zu formen, Charaktere zu bilden, die für andere alles geben, aber sich niemals verbiegen lassen.
Schon mit sieben Jahren spielt er zum ersten Mal in der Wördener St. Nikolai-Kirche an der historischen Anthonius-Wilde-Orgel im Gottesdienst. Als 11-jähriger macht er seine erste Rundfunkaufnahme, als 13-jähriger wird er regulärer Organist und Kantor. Von 1962 bis 1968 studiert er Kirchenmusik, Komposition und Dirigieren in Lübeck, Freiburg, Paris, Madrid sowie Hamburg, erwirbt das Kapellmeisterexamen sowie das Orgel-Konzertexamen und wird schließlich Kirchenmusiker an der Bodelschwingh-Kirche in Lübeck und gleichzeitig Assistenz-Organist von Prof. Kraft an der St. Marienkirche in Lübeck. Es entstehen unter anderem das „Wöhrdener Kantatenbuch“, das „Lübecker Motettenbuch“ und die „Lübecker Geistlichen Konzerte“. Mit 27 Jahren wird er 1969 zum Organisten, Kapellmeister und Kantor am Ratzeburger Dom berufen und drei Jahre später 1972 wegen seiner außerordentlichen Aufbauarbeit zu Deutschlands jüngstem Kirchenmusikdirektor ernannt.
38 Jahre lang prägt Neithard Bethke das kirchenmusikalische Geschehen in der Domstadt. Hier entstehen die „Weltlichen Chorlieder“, das „Ratzeburger Orgelbuch“ und die „Ratzeburger Chormusiken“. Die Oratorientrilogie „Media vita in morte sumus“ (zum Ewigkeitssonntag), „Christus natus est hodie“ (zu Weihnachten) und „Crucifixus est pro nobis“ (zu Karfreitag) wird fester musikalischer Bestandteil dieser christlichen Feiertage. Die „Ratzeburger Dommusiken“ führen alljährlich international renommierte Organisten und Solisten an die Rieger-Orgel, in der seit 1969 stattfindenden „Ratzeburger Sommerakademie“ durchlaufen weit über tausend Studenten die zweiwöchigen Meisterkurse Bethkes für Orgel und Orchester. Ratzeburg wird zu einer Stätte hochgeschätzter Kirchenmusik im In- und Ausland. Alle drei Domorgeln entstehen während seiner Amtszeit, zunächst 1972 die kleinere Chororgel, dann 1978 die viermanualige Hauptorgel am Westwerk (beide von Rieger, Schwarzach/Vorarlberg) und schließlich 1985 die Paradies-Orgel der Firma Becker, Bente/Helsinghausen.
Bethkes reiches und vielseitiges kompositorisches Werk umfasst mehr als 350 eigene Werke, die meisten für Orgel, eine Messe, Motetten, Kantaten, weltliche und geistliche Chorwerke, die drei Oratorien, eine Sinfonie und weitere Werke für Orchester, 85 von ihnen sind in deutschen Musikverlagen erschienen. 1981 wird Neithard Bethke zudem Chefdirigent des angesehenen Deutschen Bachorchesters, das mit zahlreichen Konzerten im Dom begeistert. Der Wissensdurst dieses genialen Künstlers ist ungebrochen: Berufsbegleitend studiert er Musikwissenschaft, Geschichte und Theologie und promoviert 1988 an der Kieler Christian-Albrechts-Universität mit einer Dissertation über das kompositorische Gesamtwerk von Kurt Thomas, dem zeitweiligen Dirigenten des Leipziger Thomanerchors, zum Doktor der Philosophie. Eine weitere theologische Dissertation liegt seit mehr als zwanzig Jahren abgabebereit in der Schublade. 1994 verleiht ihm der Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz am Bande. Im Jahre 2000 wird er Ehrenprofessor des Landes Schleswig-Holstein. Am 30. April 2007 tritt er in den Ruhestand. Tausende von Gottesdienst- und Konzertbesuchern hat Neithard Bethke in diesen vier Jahrzehnten mit seinem Spiel im Dom berührt und begeistert. Musik ist die wohl schönste Form des Betens und erreicht, was Worte nicht auszudrücken vermögen, oder um es mit dem Jubilar selbst zu sagen: „Musik ist die höchste geistige Kunstform, das himmlische Relikt aus dem Paradies, die Sprache und das Wort Gottes, und ein rechtschaffender Musiker ist lediglich ein Vermittler des Überirdischen, um es an die Menschen weiterzugeben.“
Neben seiner musikalischen Tätigkeit hat er ebenso tiefe Spuren im Feuerwesen der Kreisstadt hinterlassen. Schon in Dithmarschen Feuerwehrkamerad, tritt er 1969 in die Ratzeburger Wehr ein, erhält bei der Hamburger Berufsfeuerwehr eine intensive Ausbildung, nimmt langjährige Führungsaufgaben wahr und wird schließlich von 1992 bis 2004 als Hauptbrandmeister zweimal von seinen Kameraden und der Ratzeburger Stadtvertretung zum Gemeindewehrführer gewählt. Kaum im Amt, muss er bei den Möllner Brandanschlägen am 23. November 1992 als einsatzleitender Wehrführer das Feuer in der Mühlenstraße 9 bekämpfen. Unter eigener Lebensgefahr rettet er den siebenjährigen Ibrahim Arslan aus dem im Vollbrand stehenden Gebäude. Ebenso wie in Mölln entzündet sich in der Kreisstadt ein jahrelanges Tauziehen um den Neubau einer Feuerwache, die schließlich Dank der Hartnäckigkeit Bethkes, aber auch seines Geschicks in der Weststadt entsteht. In den zwölf Jahren seiner Führung wird nahezu der gesamte Fahrzeugpark der Wehr erneuert. Mit einer denkwürdigen Rede – sozusagen einem „echten Dithmarscher Bethke“ – verabschiedet sich der scheidende Wehrführer am 18. September 2004 von seinen Kameraden.
Ruhestand bedeutet für Bethke jedoch nicht Untätigkeit: „Ich lebe zu gern. Ausruhen kann ich noch im Grab“, so der seit 2009 bis heute unermüdliche Dirigent des Akademischen Chores der Hochschule Zittau/Görlitz und des Hochschulinstitutes Zittau. Viele Konzerte mit weltlichen und geistlichen Repertoires führen ihn und sein neues Ensemble seither durch den sächsischen Raum und auf ausgedehnte Konzertreisen nach Polen, Tschechien und die Slowakei, Slowenien und die Ukraine bis hinauf ins Baltikum. Seit 2015 dirigiert er zudem den Prager Kammerchor und natürlich weiterhin „sein“ Deutsches Bachorchester. Immer mehr Werke seiner unerschöpflichen kompositorischen Tätigkeit werden bis heute in den Verlagen publiziert.
Musik und Feuerwehr. Wie passt dies zusammen? Für Neithard Bethke bilden beide eine Symbiose: „Das allgemeine menschliche Zusammenleben sollte sein wie in der Kammermusik, wo einer für den anderen da sein muss, das rechte Leben erfordert kammermusikalische, rücksichtsvolle Gesinnung. Man muss die notwendige Durchdringung des Individuellen mit dem Sozialen für einen echten Künstler betonen. Wir sind nicht allein auf der Welt. Ohne die Mitmenschen gehen wir seelisch zugrunde,“ führt er in einer Vorlesung vor Studenten der Hochschule Zittau aus.
Neithard Bethke wird 80 Jahre – und wir gratulieren aus dem fernen Lauenburgischen ins sächsische Zittau. Ein brillanter Künstler, ein beherzter Helfer und ein wahrhaftiger Charakter. Wenn der bipolare Leitspruch der Feuerwehren inhaltlich auf ein ganzes Leben zutrifft, auf seine Sensibilität am Manual der Königin der Instrumente gleichermaßen wie auf die Klarheit der Kommandos an der Brandstelle, dann ist es das von Neithard Bethke: „Gott zur Ehr´ – dem Nächsten zur Wehr.“