Kiel/Herzogtum Lauenburg (pm). Anlässlich des Tages der gewaltfreien Erziehung (30. April 2021) warnt der Kinderschutzbund Schleswig-Holstein, dass die Corona-Pandemie das Recht auf gewaltfreie Erziehung auf eine harte Probe stellt. „Im Zuge des pandemiebedingten Rückzugs in die Familie und der häuslichen Isolation können räumliche Enge und Bewegungseinschränkungen familiäre Konflikte schnell verstärken – vor allem, wenn weitere Belastungsfaktoren wie Geldsorgen hinzukommen“, erklärt DKSB LV SH Geschäftsführerin Susanne Günther. „Überforderung, Angst, Frustration, Verunsicherung und fehlende Rückzugsmöglichkeiten nehmen in so einer Krisensituation immer mehr zu und Leidtragende sind dabei häufig auch die Kinder. Auch Familien ohne entsprechende Vorbelastungen spüren in derartigen Ausnahmesituationen teils immensen Stress und Überbelastung. Deshalb ist es wichtig, unablässig ins Bewusstsein zu rufen, dass Gewalt – sei es in physischer oder psychischer Form oder auch durch Vernachlässigung – im Familienalltag niemals einen Platz haben darf“, so Susanne Günther mit Verweis auf das seit 2000 bestehenden Recht auf gewaltfreie Erziehung.
Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik aus Schleswig-Holstein zur Gewalt gegen Kinder sind 2020 besorgniserregend und bestätigen die Rückmeldungen aus den Kinderschutz-Zentren. Bei sexueller Gewalt gegen Kinder ist im Jahr 2020 eine Zunahme von fast 16 Prozent zu verzeichnen, bei Misshandlung eine Zunahme von fast vier Prozent. „Das sind erschreckende Zahlen, die nur die Spitze des Eisberges darstellen, denn hier werden nur Taten erfasst, die der Polizei tatsächlich gemeldet werden. Durch die Corona-Schutzmaßnahmen ist die soziale Aufmerksamkeit deutlich zurückgegangen. Schulen, KiTas und Sportvereine, die sonst häufig als Frühwarnsysteme fungieren, werden pandemiebedingt immer wieder geschlossen. Da bleibt vieles unentdeckt oder wird erst mit starker Verzögerung gemeldet“, befürchtet Susanne Günther und die Leiterin des DKSB Kinderschutz-Zentrums Kiel Lidija Baumann bestätigt: „Die aktuelle häusliche Isolation erleichtert es, Gewalt gegen Kinder zu verheimlichen. Denn auch wenn in den letzten Jahren das Bewusstsein, dass alle Formen von Gewalt und Vernachlässigung Kindern in der Entwicklung massiv schadet, deutlich gestiegen ist und Gewalt gegen Kinder gesamtgesellschaftlich viel mehr geächtet wird, bedeutet das noch lange nicht, dass Kinder keine Gewalt erleben. So haben wir bei unserer Arbeit oft den Eindruck, dass Kinder keine andere Chance haben, ihre Not deutlich zu machen als über extremes Verhalten,“ berichtet die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin.
Der Kinderschutzbund ruft jedes Jahr am 30. April zum Tag der gewaltfreien Erziehung auf. Nach jahrelanger Lobbyarbeit hat der DKSB entscheidend dazu beigetragen, das Recht auf gewaltfreie Erziehung zu verwirklichen. Dieser Tag soll daran erinnern, dass die gesamte Gesellschaft die Verantwortung das gewaltfreie Aufwachsen von Kindern trägt. Zudem soll er Eltern ermutigen, ihr Ideal einer gewaltfreien Erziehung Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu bietet der Kinderschutzbund Unterstützung an – in seinen Kinderschutz-Zentren, den Fachberatungsstellen oder durch Angebote wie das erfolgreiche Elternbildungskonzept „Starke Eltern – Starke Kinder“.
„Vor 21 Jahren wurde das Recht auf gewaltfreie Erziehung im BGB festgeschrieben“, erinnert DKSB LV SH Geschäftsführerin Susanne Günther. „Es kann nicht sein, dass nach so vielen Jahren laut Studie3 immer noch jede*r Sechste eine Ohrfeige für angebracht hält oder 42 Prozent einen ‚Klaps auf den Po‘ nach wie vor als zulässiges Mittel der Kindererziehung bezeichnen. Und da haben wir noch nicht über psychische Gewalt und Vernachlässigung gesprochen. Dafür, dass diese ebenfalls als Formen der Gewalt zu betrachten sind, gibt es immer noch zu wenig Bewusstsein“, kritisiert Susanne Günther. „Daran müssen wir unablässig arbeiten und in Maßnahmen investieren, die die Rechte der Kinder auf Schutz, Förderung und Beteiligung nachhaltig stärken und fest im gesellschaftlichen Bewusstsein verankern. Gerade in Krisensituationen wie dieser geht es darum, immer aufmerksam zu bleiben und Strukturen zu stärken, die Kinder und Jugendliche unterstützen. Nur so haben wir eine Chance, krisenbedingte Verschärfungen aufzufangen und gleichzeitig bestehende Missstände weiter abzubauen“, fordert Susanne Günther.