Lübeck (pm). Die Digitalisierung wird Wirtschaft und Gesellschaft so stark verändern wie die erste industrielle Revolution. „Wir stehen an der Schwelle einer Zeitenwende. Künstliche Intelligenz wird in unserer Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel auslösen“, sagte Markus Reithwiesner, Geschäftsführer der Haufe-Group mit Sitz in Freiburg, auf dem Neujahrsempfang der IHK zu Lübeck. „Daher brauchen wir Rahmenbedingungen, die uns helfen, diese Veränderungen leichter angehen zu können.“
Dazu zählen auch Werte und eine Ethik in der Digitalisierung, stellten Reithwiesner sowie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther und Professor Dr. Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), in einer vom Fernsehjournalisten Christopher Scheffelmeier moderierten Diskussion heraus. Rund 1.350 Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Vertreter aus Politik, Verwaltung, Verbänden und öffentlichem Leben waren zu der IHK-Veranstaltung in die Musik- und Kongresshalle Lübeck gekommen.
Auf die Frage des Moderators, ob es eine Kluft zwischen digitaler und analoger Welt gebe, antwortete Reithwiesner, dass ein Auseinanderdriften der Bevölkerung eine reale Gefahr darstelle. „Die aktuellen politischen Entwicklungen resultieren konkret aus diesen Ängsten“, sagte er. Wichtig sei es, bei Veränderungen die Chancen zu erkennen und zu nutzen. Als CEO der Haufe-Group hat er den Wandel des einstigen Traditionsverlags in ein internationales Medien- und Softwareunternehmen mit digitalem Angebot vorangetrieben, das sich erfolgreich im Markt behauptet und kontinuierlich wächst. Um die Mitarbeiter bei der Transformation mitzunehmen, bedürfe es zwar eines gewissen Maßes an Leadership. In einer Welt, die immer schneller wird, wären hierarchische Strukturen allerdings nicht immer hilfreich. Unternehmer sollten heute anders führen als vor der Digitalisierung. „Wir müssen den Mut haben, loszulassen und einen Kontext zu schaffen, in dem sich Mitarbeiter frei bewegen können. Bei uns arbeiten mittlerweile hunderte von Mitarbeitern selbstbestimmt und selbstorganisiert.“ Daraus seien Projekte entstanden, die Kollegen bis dahin für unmöglich gehalten hatten. Reithwiesner betonte, der Mittelstand sei für diesen Wandel besonders geeignet, da seine Struktur derartige Veränderungen erleichtere.
Als oberster Digitalisierer des Landes will auch Ministerpräsident Günther die sich bietenden Chancen nutzen. Das Land unterstütze die Wirtschaft bei den Veränderungen. „Wir müssen den Menschen die Sorgen vor der Digitalisierung nehmen.“ Anstatt zum Pessimismus beizutragen, wolle er mit Freude Politik vermitteln. „Die Leute wollen Menschen, die Herausforderungen angehen und ein Ziel für ihr Land haben“, betonte der Regierungschef. Zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben fehlten dem Land ebenso wie der Wirtschaft bereits Fachkräfte. Günther: „Im Moment haben wir nicht das Potenzial, diese Plätze zu besetzen. Wenn wir Leute herlocken und die richtigen Prioritäten setzen, haben wir eine gute Chance. Wir benötigen Mitarbeiter, die gestalten und Lust haben, Bürger positiv zu beraten.“ Entscheidend sei es, gute Bedingungen für die Menschen zu schaffen. Dazu zählten außer attraktiven Jobs auch Themen wie Bezahlung sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. „Wir müssen den Wettbewerb um die besten Köpfe gewinnen“, sagte er.
Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erfordere Investitionen in die digitale Ökonomie. Deutschland und Europa müssten eine gemeinsame Industriepolitik betreiben, forderte Vöpel: Das Thema Künstliche Intelligenz wäre für engere Kooperationen zwischen Deutschland und Frankreich geeignet, gerade auch mit Norddeutschland als Standort. Der HWWI-Direktor griff den Ansatz des Ministerpräsidenten auf, mehr Flexibilität in der Arbeitswelt zu schaffen. „Berufsbilder haben sich im Laufe der Zeit verändert. Der Strukturwandel ist tief greifend und erfordert es, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren.“ Das gelte auch für die Bildung und den Sozialstaat. „Wir werden in eine ganz andere Gesellschaft hineingehen. Es ist wichtig, nicht nur über Grundeinkommen nachzudenken, sondern auch über individuelle Formen der Ausbildung“, sagte Vöpel. Er betonte, dass der Reformbedarf im Kontext der Digitalisierung groß sei.
Dem Experten war zudem ein weiterer Aspekt wichtig: die digitale Mündigkeit. „Häufig lassen sich Fake und Wahrheit nicht mehr unterscheiden. Es ist aber eine Überlebensfrage der Demokratie, Lüge und Wahrheit auseinander halten zu können“, betonte Vöpel. Die Menschen könnten schon jetzt kaum unterscheiden, ob sie es mit wahren oder falschen Informationen zu tun haben. „Diese Unterscheidung wird die entscheidende Aufgabe im kommenden Jahrhundert sein“, mahnte der HWWI-Chef. Dabei könne die Digitalisierung helfen, sie böte eine Chance, Nachhaltigkeit und eine partizipative Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn es gelingt, die ethischen Fragen und die Innovationen in die Gesellschaft zu übertragen, ergebe die Digitalisierung Chancen für jeden Einzelnen.
IHK-Präses Friederike C. Kühn zeigte sich zufrieden: „Mit dem Thema ‚Ethik in der Digitalisierung‘ geben wir der Wirtschaft wichtige neue Impulse. Im Zeitalter der Digitalisierung stehen nicht nur Prozesse in Produktion und Vertrieb zur Disposition, sondern vor allem auch Führungsstrukturen in den Unternehmen.“ Markus Reithwiesner hätte eindrucksvoll geschildert, welche neue Rolle Führung bei den Veränderungsprozessen spielen muss. Von entscheidender Bedeutung seien dabei Werte und eine moderne Unternehmenskultur.
Die IHK hat im vergangenen Jahr ein Dialogforum „Ethik in der Digitalisierung“ ins Leben gerufen, in dem sich Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche und Gewerkschaft mit dem Thema „Werte“ befassen. „Wir werden diese Arbeit in diesem Jahr fortsetzen, damit wir unserer mittelständischen Wirtschaft Orientierung bei den Veränderungen geben können“, so Kühn.